Nach erheblicher Gewichtsreduktion kann ein Anspruch auf Bekleidungserstausstattung bestehen

Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 27.10.2011 – L 5 AS 342/10

Nach erheblicher Gewichtsreduktion kann ein Anspruch auf Bekleidungserstausstattung bestehen. (Rn.15)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt Leistungen nach den Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Ausstattung mit neuer Bekleidung.

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Der 1967 geborene Kläger bezieht seit Jahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus Mitteln des SGB II. Am 5. März 2008 beantragte er unter Hinweis auf ein Attest der ihn behandelnden Allgemeinärzte die Mittel zur Anschaffung im Einzelnen aufgeführter Kleidungsstücke und führte zur Begründung aus, er habe nach der Einnahme des Arzneimittels F. erheblich an Körpergewicht verloren. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24. Juni 2008 ab und wies den am 17. Juli 2008 erhobenen Widerspruch mit Bescheid vom 20. November 2008 zurück.

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Hiergegen hat der Kläger am 28. November 2008 Klage erhobenen und geltend gemacht, dass sein Körpergewicht von ungefähr 120 kg auf zuletzt 88 kg gesunken sei. Dadurch habe sich seine Kleidergröße (Jeans) von 44 auf 36 und seine Schuhgröße von 45 bis 46 auf 43 bis 44 reduziert. Diese Umstände seien einem Totalverlust der Kleidung gleichzustellen, wofür ein Betrag von 420,– EUR (entsprechend dem in der einschlägigen Fachanweisung des Beklagten genannten Betrag für eine Bekleidungserstausstattung) angemessen sei.

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Mit Urteil vom 27. September 2010 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Beklagten zur Gewährung von 420,– EUR für die Kleidungsbeschaffung verurteilt. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 1. Alt, Satz 2 SGB II seien Leistungen für die Erstausstattung mit Bekleidung nicht von der Regelleistung umfasst. Die Abgrenzung, wann anstelle des grundsätzlich aus der Regelleistung zu deckenden Erhaltungs- bzw. Ergänzungsbedarfs ein erstmaliger Bedarf mit neuer Ausstattung entstehe, richte sich danach, ob die Bedarfssituation aufgrund eines besonderen Umstandes eintrete oder aber ob es sich um die laufende Anschaffung und Instandhaltung handele. Zu diesen besonderen Umständen zähle neben den im Gesetz beispielhaft genannten Ereignissen wie Schwangerschaft und Geburt auch eine – allerdings außergewöhnliche – Zu- oder Abnahme des Körpergewichts, wie sie hier vorliege. Dieser Sichtweise stehe auch das Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. März 2010 (Az.: B 14 AS 81/08 R) nicht entgegen, wonach wachstumsbedingte Neuanschaffungen bei Kindern nicht von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II erfasst seien. Während das übliche Wachstum von Kindern einen regelmäßigen, d.h. typischen Vorgang darstelle, falle eine Gewichtsreduktion von 120 kg auf ca. 88 kg erheblich aus dem Rahmen dem Üblichen. Sie stelle eines jener besonderen Ereignisse dar, für die § 23 SGB II deswegen eine Art Öffnungsklausel enthalte, weil sie wegen ihrer Atypik bei der Festlegung der Regelleistung keine Berücksichtigung finden könnten. Während im Übrigen die Erscheinung von Kinder, die aus ihren Sachen „herausgewachsen“ seien, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade sozial akzeptiert sei, werde ein Erwachsener in erheblich zu großer Kleidung in der Öffentlichkeit meist als lächerlich empfunden. Weiterhin lasse sich dem Anspruch auch nicht entgegenhalten, die Gewichtsreduktion habe sich in einem zeitlichen Rahmen vollzogen, in dem ohnehin (aus der Regelleistung zu deckende) Ersatzbeschaffungen angefallen wären. Aus dem vom Kläger bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Attest der behandelnden Allgemeinärzte ergebe sich, dass sich jedenfalls ein erster Schub mit einer Reduktion allein um mehr als 20 kg in einem Zeitraum von etwa einem Dreivierteljahr (Juli 2007 bis März 2008) vollzogen habe. Der Anspruch sei auch in der vom Kläger geltend gemachten Höhe gegeben, die der Beklagte für eine Erstausstattung mit Kleidung veranschlage. Es erscheine überzeugend, dass der Kläger so gut wie den gesamten Bestand an Oberbekleidung, Unterwäsche und Schuhwerk austauschen müsse. Die Kosten für solche Kleidungsstücke, die – wie Kopfbedeckungen, Schnürsenkel etc. – von den Folgen eines erheblichen Gewichtsverlustes weitgehend unberührt blieben, fielen finanziell nicht so erheblich ins Gewicht, dass deshalb ein Abzug gerechtfertigt wäre.

5

Dagegen hat der Beklagte am 27. Oktober 2010 Berufung eingelegt. Der Kläger sei angesichts der schrittweisen Gewichtsreduktion seine Kleidung ändern lassen und sich im Übrigen nach und nach aus der Regelleistung neue Bekleidung anschaffen können.

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Der Beklagte beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 27. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht erklärt, sein ursprüngliches Gewicht habe sogar 135 kg betragen.

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Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozessakte sowie die Sachakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.


Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter entscheiden.

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Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht entschieden, dass der Kläger einen Erstausstattungsbedarf für Bekleidung nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II geltend machten konnte. Insoweit wird nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf das angefochten Urteil Bezug genommen.

15

Auch das erkennende Gericht ist der Auffassung, dass infolge starken Gewichtsverlustes bei Erwachsenen ein Bedarf an einer Erstausstattung für Bekleidung entstehen kann. Der Begriff der Erstausstattung ist abzugrenzen von dem Erhaltungs- bzw. Ergänzungsbedarf, der aus der Regelleistung zu bestreiten ist. Die Erstausstattung mit Bekleidung erfasst in diesem Zusammenhang diejenigen Fälle, in denen so gut wie keine Ausstattung für die jeweilige Bedarfssituation vorhanden ist; etwa nach Gesamtverlust durch Wohnungsbrand oder aufgrund „außergewöhnlicher Umstände“ (BT-Drs. 15/1514 S. 16). Solche außergewöhnlichen Umstände können in einer erheblichen Gewichtsveränderung liegen, die bei Erwachsenen – im Gegensatz zu Kindern, die im Rahmen des Wachstums regelmäßig auf neue Kleidung angewiesen sind – nicht regelmäßig und damit planbar vorkommen (vgl. insoweit BSG, Urt. v. 23.3.2010 – B 14 AS 81/08 R; LSG Berlin-Bbg., Urt. v. 25.2.2010 – L 34 AS 24/09; LSG NW, Urt. v. 17.9.2008 – L 12 AS 57/07).

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Dass eine erhebliche Gewichtsveränderung in diesem Sinne liegt hier vorlag und der Kläger sich auch nicht etwa durch schrittweise Ersatzbeschaffungen hätte helfen können, hat das Sozialgericht überzeugend begründet. Änderungsmaßnahmen an den vorhandenen Kleidungsstücken, die bei einer Gewichtsabnahme grundsätzlich in Betracht kommen, scheiden hier nach Überzeugung des Gerichts ebenfalls aus. Hinsichtlich der Schuhe ergibt sich das aus der Natur der Sache; hinsichtlich der Bekleidung im Übrigen erscheint der eingetretene Änderungsbedarf als so umfassend und durchgreifend, dass er hinter den Aufwendungen für Neuanschaffungen nicht zurückgeblieben wäre.

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Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.

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Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG vorliegt.

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